Rezension

 

Die Kehrseite eines Mythos

In der Neuauflage seines Romans „Ein amerikanischer Thriller“ erzählt James Ellroy von John F. Kennedys Aufstieg, J. Edgar Hoovers erbittertem Kampf gegen den Kommunismus und von den Gangstern, die beides erst ermöglichten.

Von Mathias Herr

Die Handlung startet im Jahr 1958 und endet am 22.11.1963 in Dallas kurz vor dem Attentat auf John F. Kennedy.

 

Im Fokus des Romans stehen drei Personen, die auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten. Erstens Pete Bondurant, ein frankokanadischer Einwanderer, der in Los Angeles lebt und sich von dem Multimillionär Howard Hughes als Zuhälter, Rauschgiftlieferant und Privatdetektiv bezahlen lässt. Petes Stärke liegt darin „überzeugend“ zu sein. Das Jobangebot hat er bekommen, „nachdem er in einer Ausnüchterungszelle einen Mann mit bloßen Fäusten totschlug“. Für seine Dienste wird er mit einer Villa in Beverly Hills belohnt. Lässt er sich anfangs von Hughes lediglich für dessen Machenschaften einsetzen und um kleine Gangster zu erschrecken, erkennt er bald sein eigenes Potential. Durch Auftragsmorde, die ihm niemand nachweisen kann, rückt er ins Interesse sowohl der CIA als auch der Mafia. Doch anstatt ihn vor Gericht zu bringen, wird er später vom CIA engagiert, um Verbindungen zum Ku Klux Klan herzustellen und die „Firma“ (Mafia) zu unterstützen. Er wird Anführer dieser „Firma“, in der neben Leuten vom Ku Klux Klan auch Exilkubaner tätig sind, die einen Angriff auf Kuba vorbereiten. Nach dem Eklat in der Schweinebucht, welcher vor allem der mangelnden Unterstützung J.F. Kennedys angelastet wird, bereitet die „Firma“ ein direktes Attentat auf Fidel Castro vor. Doch schon bald schlägt die Stimmung innerhalb der Mafia um. Das Feindbild wechselt. John .F. Kennedy wird zum Staatsfeind erklärt und soll für seine Verfehlungen bezahlen.

 

Die zweite Hauptfigur ist Special Agent Kemper C. Boyd, der in Philadelphia als erfahrener Autoknacker mit FBI-Lizenz tätig ist. Kemper wird persönlich protegiert von J. Edgar Hoover, dem Begründer und langjährigen Direktor des FBI. Hoover nennt Kemper einen skrupellosen, aber sehr charmanten Mann, den man nie im selben Anzug sieht. Zu Beginn der Handlung ist Kemper nur ein einfacher FBI Agent. Er steigt jedoch schnell auf, wird in Kennedys Wahlkampfteam eingeschleust und später sogar zum Dreifachagenten. Denn auch die CIA zeigt Interesse an ihm. Kemper wird beauftragt, für die CIA und die Mafia Heroin zu verkaufen, um so eine schlagkräftige Organisation auf die Beine zu stellen, die gegen Castros Kuba vorgehen soll. In den Wirrungen des Heroinhandels und den Angriffen auf Kuba entwickelt sich Kemper zu einem gewissenlosen Werkzeug der Mächtigen und kann bald Freund und Feind nicht mehr unterscheiden. In der „Firma“ kreuzen sich die Wege von Pete und Kemper. Die beiden Männer, die ursprünglich auf unterschiedlichen Seiten des Gesetzes standen, werden Vertraute.

 

Der dritte Akteur ist Ward Littel. Ward ist ein abgehalfterter Abhörspezialist mit einem massiven Alkoholproblem. Lässt er sich zu Beginn noch von Kemper rumschubsen und für dessen Machenschaften, vor allem im Zusammenhang mit Kennedys Wahlkampf, missbrauchen, schlägt er bald seinen eigenen Karriereweg ein. Anfangs hört er nur Hotelzimmer, ab in denen John F. Kennedy sich mit Prostituierten vergnügt. Alsbald jedoch findet er heraus, dass die Teamster (die Gewerkschaft der Transportarbeiter) Unmengen von Schwarzgeldkonten besitzen, die von hochrangigen Mafiosi gespeist und verwaltet werden. Nach und nach kann er aufklären, wer den Löwenanteil dieser Schwarzgelder stellt, die vor allem von Kriminellen als Darlehen genutzt werden: Joseph P. Kennedy, der Vater von John F. Diese Information macht Ward zu einem mächtigen Mann. J.F. Kennedy ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewählt, und der Ruf seines gesamten Clans könnte mit einem Schlag vernichtet werden.

 

Alle Drei sind jedoch nur scheinbar autonom handelnde Spieler in Ellroys Roman. Gelenkt werden sie von den Mächtigen ihrer Zeit. Dazu gehören John F. und Bobby Kennedy (Johns Bruder und unter seiner Präsidentschaft Justizminister), die es verstehen, Kemper für sich zu vereinnahmen, ihn schließlich aber fallen lassen. Und nicht zuletzt J. Edgar Hoover, der wohl mächtigste Mann in den USA der späten 50er und frühen 60er Jahre. Hoover steuert im Verlaufe der Handlung alle drei Hauptpersonen. Pete, obwohl bzw. gerade weil er ein Mörder ist, wird von Hoover engagiert, um seinen fanatischen Kampf gegen den Kommunismus zu führen. Kemper wird von Hoover wie eine Marionette überall dort hinbewegt, wo sie gebraucht wird, und er schafft es sogar, diese Fernsteuerung wie Kempers eigene Ideen aussehen zu lassen. Ward schließlich wird von Hoover zunächst nicht wahrgenommen, rückt aber in den Mittelpunkt seines Interesses, als ihm klar wird, welch heikle Informationen er besitzt.

 

Ellroys Erzählhandlung ist handwerklich souverän aufgebaut. Er lässt eine starke Dynamik entstehen durch ständig wechselnde Schauplätze, unterschiedliche Charaktere und deren verwickelte Beziehungen zueinander. Seine Sprache besticht durch kurze, knackige Sätze. Passend dazu hat er sich in einem Interview geäußert: „Ich stehe darauf, wenn eine Story ohne Umschweife vorwärts entwickelt wird […] irrelevante Detailbeschreibungen gefallen mir nicht“.

 

Ellroys Personen handeln skrupellos. Die Toten in seinem Roman lassen sich nicht zählen. Und auch die Art und Weise, wie der eine oder andere aus der Handlung „entfernt“ wird, ist alles andere als zurückhaltend geschildert. Wer sich von einer Leiche, die in den Sümpfen von Krokodilen verspeist wird, gegebenenfalls noch nicht abschrecken lässt, wird es sich eventuell bei einem ermordeten Lustknaben, der seine Genitalien in den Mund gesteckt bekommen hat, noch mal überlegen weiter zu lesen.

 

Doch wer James Ellroy kennt, weiß, dass es zu seinem Stil gehört, brutale Geschichten zu erzählen, und wer es bislang noch nicht wusste, kann es durch diesen Roman schätzen lernen. „Er schreibt die blutigsten Krimis Amerikas“, befindet „Die Zeit“. Wie jedes seiner Bücher besticht auch das vorliegende durch eine dichte Handlung und eine durch und durch pessimistische Weltsicht. Vor allem sein eigenes Land, die USA, wird sehr gründlich und kritisch unter die Lupe genommen. Angesichts des hier besprochenen Romans stellt sich die Frage, warum Ellroy Personen der Zeithistorie in seine Handlung einbaut, dabei aber eine eindeutig fiktive Geschichte erzählt. Teile seiner Schilderungen gehen zwar über die bloße Fiktion hinaus - z.B. war John F. Kennedy wirklich sehr „beliebt“ bei den Frauen -, doch man merkt Ellroy an, dass er eine Abrechnung mit dem Kennedy Mythos vornimmt und seinem Land einen satirischen Stachel versetzt. So lautet der erste Satz im Vorwort: „Amerika war niemals unschuldig.“ Und wenige Zeilen darunter ist über J.F. Kennedy zu lesen: „Er konnte die Leute herrlich einseifen und hatte eine Weltklassefrisur.“ Die Frage ob Ellroy lediglich Fiktion betreibt oder eine dokumentarische Gesellschaftskritik mit fiktivem Einsprengseln betreibt kann leider nicht geklärt werden, weil sich Ellroy selbst dazu leider nicht äußert.

 

James Ellroy wurde am 4.3.1948 in Los Angeles geboren. Er überwand seine Alkohol und Drogensucht in den 70er Jahren und ist seitdem ein gefeierter Autor. Ellroys Romane sind nicht nur in den USA Bestseller. Er lieferte bereits einige Filmvorlagen. Sein Buch „Stadt der Teufel“ etwa wurde unter dem Titel „L.A. Confidential“ mit Kevin Spacey und Russel Crowe 1997 mit großem Erfolg verfilmt. Außerdem schrieb er das Drehbuch zu „Street Kings“ aus dem Jahr 2008, in dem unter anderem Keanu Reeves spielte.

Mit „Ein amerikanischer Thriller“ liefert James Ellroy den grandiosen Auftakt zu seiner „Unterwelt“-Trilogie. Sind Sie ein Leser, der in einem Buch eine Identifikationsfigur braucht? Dann lassen Sie am besten die Finger von „Ein amerikanischer Thriller“ und den beiden Nachfolgewerken „Ein amerikanischer Albtraum“ und „Blut will fließen“, denn außer Kriminellen und sonstigen Dreckschweinen wird Ihnen hier diesbezüglich nichts geboten.

James Ellroy: Ein amerikanischer Thriller; Band I der Underworld-Trilogie (amerikanischer Originaltitel: American Tabloid), übersetzt von Stephen Tree, Neuausgabe, Hamburg 2010, Ullstein TB, 764 Seiten, 10,95 €, ISBN 978-3-548-28166-7