Interview mit Dr. Norbert Wolf

 

Herr Dr. Wolf, Sie beschreiben in Ihrem Band, dass die Recherche nach der vorhandenen Dürer-Literatur „allein schon bis zum Jahr 1971 die beängstigende Zahl von 10271 Titeln aufzuweisen hatte“. Was hat sie dazu bewegt, dieser großen Zahl einen weiteren Dürer-Band hinzuzufügen?


Schon vor Jahren, während meiner Vorarbeiten zu einem – freilich recht kleinen – Dürer-Buch bin ich auf diese Zahl gestoßen. Ich muss gestehen, dass ich im ersten Moment erschrocken bin, da diese Menge von Publikationen, die ein Einzelner naturgemäß nicht alle lesen kann, nahegelegt, alles Wichtige sei schon gesagt. Allerdings wurde mir schnell klar, dass es falsch wäre, sich von purer Quantität einschüchtern zu lassen. Denn die wirklich wichtigen aktuellen Titel – das heißt diejenigen, die sich bemühen, eine neue Sicht auf Dürer zu eröffnen - bleiben überschaubar. Sie kristallisieren sich aus den immens vielen Publikationen heraus, die lediglich Standards und Klischees weitergeben, etwa die vom grüblerischen oder faustischen deutschen „Kopfmenschen“ Dürer, dem die Souveränität eines gestandenen italienischen Renaissancekünstlers abgehe, sosehr er sich auch darum bemüht habe (ein Klischee, das vor allem im kunstwissenschaftlichen Ausland gepflegt wurde und zum Teil noch wird).
Im Übrigen provoziert ein Übermaß an Publikationen oft die „Angst des Torwarts vor dem Elfmeter“, nämlich vor der Notwendigkeit, Stellung zu beziehen: Das heißt mit anderen Worten, aus den bisherigen kunsthistorischen Erkenntnissen eine konzise Zusammenfassung zu generieren, zu Dürers Zeiten hätte man gesagt: eine „Summa“, die auch für das interessierte Publikum eine „handliche“ Wissensbasis bereitstellt.
Darüber hinaus, und das ist zwar ein Gemeinplatz, aber ein wichtiger: Jede Zeit muss sich, aus ihren eigenen Prämissen heraus, ihren „Kanon“ wissenschaftlicher Beurteilungskriterien neu erarbeiten, muss adäquate Fragestellungen entwickeln. Wie gut dies bei einem faszinierenden Künstler wie Dürer möglich ist, will mein jetziges Buch aufzeigen. Sie sehen, ich habe mich von der besagten Zahl nicht abschrecken lassen, ganz im Gegenteil, ich habe sie als Herausforderung betrachtet.

 

Gerade im Bereich der Malerei haben sich in den letzten Jahren wichtige und zum Teil radikal neue Erkenntnisse angesammelt, schreiben Sie in Ihrem Vorwort. Können Sie uns erzählen, welche neuen Ergebnisse Sie am meisten überrascht haben?

Meine Antwort kann unmittelbar an Ihre erste Frage anknüpfen. Erneut ein Buch über Dürer zu schreiben, macht auch deshalb Sinn, weil erstaunlicherweise immer wieder mal auch neue Fakten auftauchen.
Neben der Möglichkeit zu zahlreichen ikonografischen Neuinterpretationen finde ich persönlich am wichtigsten, dass die nunmehrige Quellenlage Dürers erste Italienreise um ein bis zwei Jahre später datieren läßt. Besonders spannend finde ich auch die Ergebnisse, die in den letzten Jahren zu einer Neubewertung erotischer Themen geführt haben. Dabei geht es nicht um „Enthüllungsstorys“ und Klatschgeschichten à la Boulevardpresse, sondern um die „aufgeklärte“ Sicht auf einen Menschen und seine Zeit, die der Sexualität freizügiger gegenüberstanden als man gemeinhin glaubte, und es geht um die Leistung eines Künstlers, die ihn bedrängenden „Triebkräfte“ ins Kreative „umzubiegen“. Sodann, um nur noch einen dritten Punkt zu nennen, war es mir besonders wichtig, die zwar schon seit längerem bekannte Rolle des spätmittelalterlichen Theologen und Philosophen Nikolaus von Kues für das Nürnberger Geistesleben und damit auch für den Künstler Dürer weiter zu verfolgen und zu betonen, woraus dann, wie ich glaube, unter anderem eine wichtige Interpretation des berühmten Selbstbildnisses Dürers in der Münchner Alten Pinakothek resultiert.

 

Dürer gilt unbestritten als der größte Grafiker der abendländischen Kunstgeschichte, sein malerisches Werk dagegen wurde nicht so selbstverständlich anerkannt. Wie bewerten Sie nun, nachdem Sie sich intensiv damit beschäftigt haben, seine Gemälde?

Diese Frage kann man im Grunde mit einem Rekurs auf Dürer selbst beantworten. Berichtet er doch in einem Brief aus Venedig, wie er die dortigen Künstler und Kunstliebhaber, die ihn bisher lediglich als Grafiker gekannt und geschätzt hätten, mit seiner Malerei enthusiasmiert habe. Er arbeitete damals am „Rosenkranzbild“, das sich heute in Prag befindet. Steht man vor der Tafel in der dortigen Nationalgalerie, versteht man trotz der vielen nachträglichen Beschädigungen und Retuschen des Werks, warum die von der Farbe „besessenen“ Venezianer Dürer als einen Meister eben jener Farbe bewundert haben. Doch nicht nur an diesem Gemälde, an vielen anderen auch (und last but not least an den Aquarellen) läßt sich Dürers eminentes koloritisches Können nachweisen. Umso deutlich wird dieses Phänomen, wenn man – wie ich es versucht habe – den Katalog der erhaltenen Gemälde auf die mehr oder weniger zweifelsfreien authentischen Werke beschränkt. Das malerische Vermögen Dürers manifestiert sich dann, schließt man erst einmal bisherige dubiose Zuschreibungen aus, umso eindringlicher. Eine solche Qualifikation geht natürlich nicht zu Lasten der Grafik. Dass Dürer auf diesem Gebiet zu den größten Künstlern aller Zeiten gehört, bleibt unbestritten – dass Dürer aber auch auf dem Gebiet der Malerei als ein ganz Großer fungiert, komplettiert seine künstlerische Potenz, macht verständlich, warum Dürer der Rang eines wahrhaft universalen Genies an der Wende vom Spätmittelalter zur Renaissance zukommt.

 

Selbstbildnis (mit Distel) 1493

Detail aus: Der Reiter (Ritter, Tod und Teufel)

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